Interview zu Architekturgeschichte

Interview zu Architekturgeschichte

Wie alte Architekturvisionen unsere Zukunft beeinflussen

Mit dem Flugzeug zur Arbeit, die Wohnung auf dem Meeresgrund? Das stellten sich Menschen schon vor hundert Jahren als ferne Utopie vor. Ein Interview mit einem Architekten von heute über die Visionen von früher.
Viele verrückte Ideen werden nur deshalb zur Realität, weil jemand mutig genug ist, sie auszusprechen und zu entwickeln. Das gilt auch für Architekten. Viele Ideen, die uns heute beeinflussen, wurden schon vor Jahrzehten entwickelt. Was Architekten antreibt, immer neue Utopien zu entwickeln, verrät Dietmar Koering, Architekt aus Köln und unter anderem Dozent an der TU Braunschweig.
WDR: Welche Rolle spielen Architekten dabei, Visionen für die Zukunft des Wohnens zu entwickeln?

Dietmar Koering: Ich sehe eigentlich in jedem Architekten einen Utopisten. In dem Moment, wo ein Bleistift zur Skizze ansetzt, ist eine Utopie geboren, also die Suche nach einer Lösung, um das System zu verbessern. Seitdem es Missstände im sozialen Gefüge gibt, gibt es auch Utopien. Manche werden eher realisiert, andere nie. Manche wiederum beeinflussen jedoch ganze Generationen, ohne, dass sie jemals gebaut werden.

WDR: Welche Utopien sind schon Wirklichkeit geworden und welche nicht?

Koering: Es gibt viele Visionen in der Architektur, die nie gebaut wurden, jedoch in ihrer Idee so stark waren, dass sie auf ihre Weise Einfluss genommen haben. Drei Beispiele: Ron Herron von Archigram designte 1964 die “Walking City”, also eine Stadt, die sich mit den Bewohnern bewegen kann. Yona Friedmans “Continent City”, welche in ihrer Art das heutige virtuelle Leben, das Global Villagevorwegnahmen. Auch Buckminster Fullers “Global Energy Grid” von 1938 war als Vision sehr einflussreich. Sie sah ein weltumfassendes Energienetz voraus. Buckminster Fuller wollte allerdings den Strom in der Welt gleich verteilen.Somit wären beispielsweise ein besseres Leben in Afrika und ein wirtschaftlicher Aufschwung möglich. Eine ähnliche Idee verfolgt das Architektenteam um “GRAFT”, das mit einem Solarkiosk ein Energienetz und auch ein Telefonnetz in sozial schwachen Gegenden Afrikas aufbauen will. Ein wichtiger Beitrag zum utopischen Wohnen war auchBuckminster Fullers “Triton City”, eine schwimmende Stadt, welche nie realisiert wurde, obwohl alles bis ins Detail berechnet wurde. Diese Berechnungen wurden Jahrzehnte später genutzt, zum Beispiel um den neuen internationalen Flughafen von Hong Kong zu bauen.

WDR: Woher kommt Ihrer Meinung nach die Faszination der Menschen für das Leben der Zukunft?

Koering: Ich denke, es geht bei Architekten und Künstlern vor allem um Identität und den Willen, etwas zu verändern. Im Sinne Darwins versucht der Mensch, in der Evolution nichts anderes als seine Gene weiter zu geben. Ich denke aber, dass das heute nur bedingt zutrifft. Zwar mögen die Gene noch eine Rolle spielen. Aber es ist möglich, sich zu verwirklichen, ohne dass es um Fortpflanzung geht.